Kirchtag

Das Highlight in der Eng

An diesem Tag verwandelt sich das schönste und älteste Almdorf Europas zu einem Schauplatz der hochalpinen Heiterkeit. Was den Kirchtag in der Eng noch besonders macht: die Feierlichkeiten sind, obwohl sie im Hochgebirge stattfinden, barrierefrei!

Sie machen es wie immer. Oder vielleicht doch nicht? Wenn sich der Tag dem Ende zuneigt, trotten die rund 230 Kühe, die den Sommer in der Eng verbringen, zurück zum Almdorf, heim in ihren Stall. Neun Ställe stehen zur Wahl. „Die wissen, wo sie hin müssen. Wer einen Bezug dazu hat, weiß, dass das eine ganz normale Sache ist. Die, die diesen Bezug nicht haben, wundern sich. Das schauen sich die Leute sehr gerne an“, sagt Hansjörg Reiter. Einer der Ställe ist seiner. Er ist Obmann der Agrargemeinschaft Engalm, deren zehn Teilhaber beziehungsweise Besitzer im mittleren Unterinntal zu Hause sind und das Recht haben, ihre Rinder auf einer der wohl schönsten Almen dieser Welt „übersommern“ zu lassen.

Rund 600 Rinder machen das und 230 davon sind Milchkühe, die ganz selbstverständlich den eindrucksvollen Marsch antreten. Am Abend. Jeden Tag. Ob Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag – oder Kirchtag. Auch am Kirchtag, dem Almkirchtag in der Eng, dem größten Festtag auf der Alm, wandern die Kühe zurück in ihre Ställe. Klar tun sie das. Sie machen es wie immer. Und doch könnte es sein, dass sie an diesem Tag den Kopf ein wenig höher tragen, die stolze Rindsbrust ein wenig stärker anspannen und ihrem Gang ein leichtes Federn verleihen. Oder einen Freudensprung. Am Kirchtag gleicht der Weg der Kühe einem kleinen Laufsteg. So viele Menschen sehen zu und derart begeisterte Ah's und Oh's lassen wohl auch Rinderherzen schneller schlagen. „Meistens bleiben die Leute, bis die Kühe kommen“, weiß Hansjörg Reiter. Ihr Stallgang ist der letzte Spaß am Kirchtag, der letzte Eindruck, den die Besucher von diesem Feiertag mit nach Hause nehmen. Viel können sie dort erzählen.


Hautnah dabei
„Für die Almerer sind das ganz besondere Stunden“, weiß Hansjörg Reiter. Seit seine Erinnerungen begannen, kennt er das. „Morgen ist Kirchtag“, hat es geheißen, als er noch „ein Bua“ war. „Da haben wir ein weißes Hemd anziehen müssen und sind raufgefahren. So ist man halt über die Jahre reingewachsen“, sagt er. Der Kirchtag gehört zu seinem Leben wie Weihnachten. Und wie Weihnachten hat auch der Kirchtag sein fixes Datum. Am ersten Sonntag im September ist es so weit. Dann wenn die ersten Blätter sich schon langsam verfärben, die Seen nur noch von Mutigen „heimgesucht“ werden, die schönste Zeit in den Bergen ihre Höhepunkte und die schönste Zeit der Schulkinder ihren Endpunkt erreicht. „Viele Familien nutzen den Tag, um vor Schulbeginn noch einen Ausflug mit den Kindern zu machen, eine kleine Bergtour“, so Hansjörg.
Für die Almerer und ihre Familien, die Melker und all die Helferlein, die alljährlich den Kirchtag in der Eng vorbereiten und die längst ein eingespieltes Team sind, ist der Gedanke an einen gemütlichen Spaziergang an diesem Sonntagvormittag wohl so fern wie der Ahornboden von Timbuktu.

Und doch ist es ein feierlicher Moment des Innehaltens, der den Startschuss gibt. Ab etwa 10.15 Uhr beginnen die Bewohner der Engalm, sich langsam bei der Almkapelle zu versammeln. Um halb Elf beginnt die Messe und es ist ein schöner Moment, wenn das freudige Getuschel und Gemurmel schlagartig verstummt, sobald der Pfarrer seine Stimme erhebt und alle Sinne sich auf die Messe konzentrieren. Erst danach wird die bombastische Umgebung wieder in vollem Umfang wahrgenommen, die eindrucksvolle Gebirgslandschaft des Karwendels, der Ahornboden oder eben das Almdorf selbst, das Zeugnis jahrhundertelanger Landwirtschaftsgeschichte ist. Und mit dem Frühschoppen beginnt der weltliche Teil des Feiertags.

Die Ausnahme
Dass derart viele Menschen sich um die Hütten tummeln, ist eine Ausnahme. Zwar ist die Engalm  ein beliebtes Ausflugsziel und Ausgangspunkt für zahlreiche Karwendel-Wanderungen, doch die Bewohner der Alm bekommen davon nur wenig mit. „Die Melker fangen schon um vier Uhr früh an, damit die Käser so früh wie möglich mit ihrer Arbeit beginnen können“, blickt Hansjörg Reiter in den Alltag der Arbeiter. Der echt früh startende Arbeitstag wird erst zu Mittag mit einer wohlverdienten Pause unterbrochen. Die Wanderer starten meist in der Früh, wenn die Arbeit auf Hochtouren läuft, und am Nachmittag flaut der Wandererstrom schon wieder ab, sodass das Leben auf der Alm ein so regelmäßiges wie ruhiges ist. Nur am Kirchtag ist das anders. „Das war immer das Highlight für die Bewohner der Engalm“, weiß der Agrarobmann.

Wenn dann am Ende des Ausnahmetags die Kühe kommen und in ihre Ställe trotten, endet meist das Fest. Mit knapp 230 Kuhglocken. Die Kühe machen es am Kirchtag scheinbar so wie immer. Wahrscheinlich aber nicht.

Tanz auf den Straßen
Musikanten spielen auf, an den Ständen werden Köstlichkeiten wie die Zillertaler Krapfen oder Kiachl vorbereitet, am Almmarkt nehmen Ranzensticker, Korbflechter, Schnitzer und andere ihre Plätze ein. „Traditionelles Handwerk zu zeigen, gehört zum Kirchtag wie die Kiachl“, sagt Hansjörg. Wie die Kiachl oder der kleine Zoo, wo Hasen und Ziegen um die Streicheleinheiten der Kleinen buhlen.

Dass auch dem Käse der Engalm im feierlichen Rahmen gehuldigt wird, versteht sich von selbst. Sowohl der Berg- als auch der Schnittkäse „räumen“ bei der heuer zum 23. Mal stattfindenden internationalen Almkäseolympiade regelrecht ab. 2016 etwa wurde der Engalm Bergkäse mit einer Goldmedaille ausgezeichnet und auch die Schnittkäse landeten „auf dem Stockerl“. Pro Jahr werden auf der Alm rund 500.000 Liter Milch zu Käse und Butter verarbeitet. Eine enorme Menge ist das. Den Kühen, Melkern und Käsern sei Dank.

Wenn das Wetter stimmt, entwickelt sich der Kirchtag in der Eng jedenfalls zu einem ganz besonderen Volksfest. Über schlechtes Wetter zu reden, ist tabu. „Es kommt wie's kommt. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Es hat aber schon ein gewisses Flair, wenn die Sonne scheint, Musik gespielt wird, die Leute zwischen den Hütten sitzen und die Schmankerln genießen. Wenn es besonders gesellig ist, wird auch auf der Straße getanzt“, weiß Hansjörg und verweist auf noch eine Besonderheit: „Almfeste gibt es viele. Was aber die Eng von anderen Almen abhebt, ist dass auch ältere, gebrechlichere Menschen oder Leute im Rollstuhl live dabei sein können. Das geht auf anderen Almen nicht. Woanders können sie das nicht so hautnah erleben.“

Dieses erhebende Gefühl nachzuvollziehen, gelingt erst bei der Vorstellung, keine steilen Wege mehr überwinden, Gipfel stürmen und das Almleben nur noch in der Erinnerung oder vor dem Fernseher genießen zu können. Ja, Hansjörg hat schon recht. Das möglich zu machen, hebt die Eng ab von all den anderen Almen. Und verleiht ihr noch mehr Charme.