Das erste Grammophon

und eine keineswegs beliebte Kaiserin...

...das interessiert wahrscheinlich auch Kinder

„Großvater - Du warst ka Übermensch, hast auch nie so dan…“ – Es ist, zumindest in Österreich, ein Gassenhauer geworden, das Lied von S.T.S. Und: Es liefert mir die Einleitung zu einem Stück Zeitgeschichte. In der Reihe „Geschichten mit Geschichte“ sollen ja auch Originale und/oder Zeitzeugen zu Wort kommen. Er war beides, mein Großvater. Er lebte von 1894 bis 1988 und hat daher eine Zeitspanne miterlebt, die die vom Beginn des Autozeitalters bis lange nach der Mondlandung umfasste. Und auch die damaligen Lebensbedingungen und der Alltag in einem kleinen Tiroler Dorf – er lebte in Stans – können hier aus erster Hand widergegeben werden. Er hat nämlich seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufgezeichnet. Hier seine (Lebens-)Geschichte: 

„Das erste Großereignis, das sich in mein Gedächtnis einprägte, war die Ermordung von Kaiserin Elisabeth (Sissi) von Österreich am 10. September 1898 in Genf durch den Anarchisten Lucheni. Das war ein Auflauf – verständlich, dass der Wirbel, den die Nachricht auslöste, sich auch in mein knapp fünfjähriges Gehirn einprägte. Und erst später verstand ich die Reaktion der Erwachsenen. Als nämlich der Hofzug mit dem Sarg der Kaiserin das Feld passierte, in welchem Stanser Bauern gerade arbeiteten, schrie einer aus der Gruppe der Knechte: „Da fährt sie – die Boar-Sau!“ (Anm.: Bayern-Sau). Zu stark waren noch die Erinnerungen an die Brandschatzung von Schwaz und Vomp im Zuge der Tiroler Freiheitskriege von 1809 durch die bayerischen Truppen. Und Elisabeth stammte ja aus Bayern… 

An den Tag der Weihe der Pfarrkirchevon Stans am 28. Oktober 1896 kann ich mich zwar nicht erinnern, da ich damals ja nicht einmal drei Jahre alt war, sehr wohl an den Bau der Arkaden, die Anlage des Friedhofs sowie die Weihe desselben im November 1898. Ja, sogar noch an die erste Verstorbene, welche acht Tage vor der Einweihung des Friedhofs begraben wurde – es war die alte „Marschall“-Wirtin Maria Hechenblaickner. Wenn ich heute (Anm.: 1971) durch den Friedhof gehe, zum Grab meiner Eltern und meiner unvergesslichen Frau Johanna sowie meiner zwei unschuldigen Kinder Anna und Josef, so sehe ich, dass nun bald der ganze, große Friedhof belegt ist. Es wäre interessant, wie viele Tote es sind, jedenfalls drei Generationen in meinem Leben (Anm. inzwischen gibt es – bei der „alten“ Laurentisukirche bereits einen neuen Friedhof). 

Wenn ich so nachdenke, wird mir erst bewusst, wie viele Opfer an Geld und Arbeit diese alten Staner geleistet haben, und zwar kostenlos. Denn der Kirchen- und Friedhofsbau dauerte von 1884 bis 1898, also 14 Jahre, wo jeden Sonntag fast alle arbeitsfähigen Staner gearbeitet haben. Das gesamte Baumaterial wurde kostenlos geliefert, ebenso das erforderliche Bauholz. Heute, in Zeiten der Hochkonjunktur, sind wir kaum in der Lage, dieses Bauwerk instand zu halten – das ist der Unterschied zwischen gestern und heute… 

Am 2. Mai 1900 war mein erster Schultag. Die Schule war im alten Widum, der am Platz des heutigen Gemeindeamtes stand. Marianna Herbst hieß meine Lehrerin. Eine sehr gute Lehrerin, die 1918 bei der großen Grippewelle starb. Um 1900 wurde die Zughaltestelle Stans eröffnet, womit das kleine Dorf (600 Einwohner) an das Bahnnetz angeschlossen war. 1901 kaufte mein Vater (Huberbauer) die erste Milchzentrifuge – und wurde ausgelacht. Denn die anderen Bauern haben die Milch in den Kasten gestellt und erst am nächsten Tag entrahmt.

Ein Wort zu den Viehställen: den Winter über wurde nicht ausgemistet, also kann man sich vorstellen, welche Sauerei in den Ställen herrschte. Jedenfalls hat sich mein Vater als erster in Stans entschlossen, den Stall mit Beton zu pflastern und eine Jauchengrube zu bauen. Nun konnte man täglich zwei Mal ausmisten und die Jauche ableiten. Die Kommentare der anderen Bauern damals: Der wird bald fertig sein mit seinem Betrieb – denn der Mist kann ja nichts wert sein, wenn er alle Tage aus dem Stall kommt. Erst allmählich folgten einige Bauern dem Beispiel meines Vaters.

Um die gleiche Zeit haben sich zwei Staner entschlossen, ein Fahrrad zu kaufen. Es waren dies der Hölzkrämer Johann Leutgeb und Josef Rinner („Simapeterl“). Das war ein Auflauf – die ersten zwei Fahrräder! Erstens kann man sich das nicht leisten und zweitens hält diese Schnelligkeit kein normaler Mensch aus!!! Und heute: Autos, Flugzeuge, Mondfahrt… (Anm.: es war mein Großvater, der 1931 als Feuerwehrkdt. Quasi als rasche Einsatztruppe in der Feuerwehr eine 14-köpfige „Radfahreinheit“ installierte).

Ich war ein Lausbub im zweiten Schuljahr, als der Bäckermeister auf Einladung meines Bruders Toni mit einem mords (Anm.: riesigen) Kasten und einem ungeheuren Trichter zu uns kam. Er stellte dieses Ungeheuer auf den großen, runden Stubentisch, bastelte an dem Gerät herum und auf einmal fing dieser Kasten an zu krawallen (Anm.: Lärm zu machen).

TEIXL, TEIXL,
JA WAS IST DENN
DAS FÜR

ein Viech?

(ANM.: TIER).

 

Ein Lied, ein Marsch und jetzt fangt er gar zu reden an! Verflixt, ja wo redet denn der? Zögernd schleiche ich mit meinem Bruder Hans zum Tisch, und – übermannt von der Neugier – trauen wir uns in diesen mysteriösen Trichter hineinzuschauen – denn da muss ja der höllische Geist drinnen sein. Oh je, nix haben wir gesehen… So haben wir das erste Grammophon von Stans erlebt.

Ich kann mich noch gut erinnern, dass im Gebiet der Fiechter Spitze (Anm.: Berg am Eingang des Stallentales) von Graf Konstantin der letzte Bär Nordtirols geschossen wurde. Das war logischerweise für mich kleinen Knirps ein gewaltiges Erlebnis. Der alte „Obal“ (Johann Lindebner, ein Bauer, dessen Geschichten dem Baron Münchhausen zur Ehre gereicht hätten) war damals noch jung und wurde vom Jäger zum Bärentreiber bestellt . Ja und wirklich – so hat er später geschildert – stand plötzlich der Bär vor ihm. „Ja, was hast denn dann gemacht?“, wurde er gefragt. Seine Antwort: „G’fressen hat er mi“ – Er wurde über 80 Jahre alt.

(Anm.: Diese Lügengeschichte ist auch in der Beschreibung über die Wolfsklamm und St. Georgenberg eingebaut)

Schon mit acht Jahren habe ich gemeinsam mit meinem um zwei Jahre älteren Hans bei einer ganz alten Kuh melken gelernt - jeder auf einer Seite. Der Vater hat damit argumentiert, dass bei dieser Kuh nicht viel zu verderben sei und sie sowieso bald zum Metzger kommen werde. Die Kuh war brav und hat sich fast was eingebildet, dass sie zwei so junge Melker hatte. Es ging alle Tage besser, so dass wir schon bald dem Vater helfen konnten. Und da kamen wir darauf, dass die ganze Sache einen Haken hatte: Denn als wir soweit waren, mussten wir mit dem Vater um fünf Uhr früh aufstehen! „Buam (Anm.: Buben) aufstehen, melken gehen, aber gleich!“, lautete sein Weckruf, dem wir uns logischerweise nicht zu widersetzen wagten.

Und so lief ein Adventsonntag (Anm.: die letzten vier Sonntage vor Weihnachten) bei uns ab: 5 Uhr melken, denn um 6 Uhr war feierliches Rorateamt (Frühgottesdienste im Advent), das wir logischerweise besuchen mussten. Anschließend gab es eine Schüssel Brennsuppe und dann ging’s wieder in den Stall: Ausmisten, während der Vater das Vieh fütterte. Um 8 Uhr war dann der Hauptgottesdienst, welcher beim Pfarrer Gallus nie unter eineinhalb Stunden dauerte. Er war zwar ein guter, aber sehr ausdauernder Prediger. Beim Wandlungsläuten wurden zuhause von der Mutter die Knödel (welche es jeden Sonntag gab) ins siedende Wasser eingelegt. Es gab sie ohne Fleischsuppe – im Sommer gab’s dazu selbst gezogenen Salat, im Winter Kraut. Fleisch gab es nur zu Weihnachten, als die gemästete Sau geschlachtet wurde, weiters am Lichtmesstag (Anm.: 2. Februar) als „Lichtbraten“, sowie zu Ostern und am Kirchtag.

Zurück zum Tagesablauf: Nach dem Hauptgottesdienst wurde sofort zu Mittag gegessen, denn um 11 Uhr hat der alte Lehrer Stadler einen Rosenkranz gebetet. Wir gingen alles andere als gerne schon wieder in die Kirche, aber – wir wohnten ja neben der Kirche -, bei der Mutter gab es keinen Pardon. Um 12.30 Uhr war dann eine lange Christenlehre mit Rosenkranz, Litanei, Herz-Jesu-Andacht und Ablassgebet. Dann war endlich der kirchliche Teil zu Ende. Anzumerken wäre noch, dass es zu meiner Zeit für die Schüler noch keinen Mantel oder gestrickten Janker gab. Wir hatten nur ein Hemd, einen Janker ohne Gilet und eine Hose auf dem Leib. Eine Unterhose gab es erst, als wir mit dem Schlitten Holz ziehen mussten, also etwa ab 14 Jahren. Übrigens: Auch für die Weiberleut (Anm.: Frauen) gab es keine Unterhosen. Da kann man sich denken, wie durchgefroren man war, wenn man bei aller Kälte so lange und so oft in die Kirche musste. Um drei Uhr nachmittags gab es an den Sonntagen einen Kaffee – aber selbstverständlich keinen Bohnenkaffee. Und dann sagte der Vater: „Buam, Werktagshosen anziehen und dann geht’s in den Stall ausmisten, Kühe putzen und die Kälber versorgen – dann tränken, und melken und die Milch zentrifugieren!“ 

Als diese Arbeit getan war, gab‘s das Abendessen und – als Sonntagsabschluss – den auf Knien gebetete Abendrosenkranz, welche nie ausbleiben durfte. Nun war wirklich Sonntag – in den zwei, drei Stunden bis neun Uhr wurde gesungen, oder sagen wir ehrlich – geschrien -, ein Lied um das andere, begleitet vom Vater mit der Klampfen (Anm.: Gitarre) und – wenn sie gut aufgelegt war, von der Mutter mit der Mundharmonika.

Kein Mensch konnte sich vorstellen, dass einmal ein Radio oder gar ein Fernseher in jedem Haus selbstverständlich sein wird. Unsere Unterhaltung bestand aus Singen, Musizieren und spielen – Lauboberzupfen (Anm.: ein Kartenspiel), Schwarzer Peter, Mühle, Fuchs und Henne, Mariaschen und ähnliches. Eine Riesengaudi war, wenn der Vater einen Kälberstrick zwischen die Zähne nahm und uns Knirpse aufforderte, ihn mit diesem von der Ofenbank zu ziehen. Natürlich haben wir ihn nie vom Fleck gebracht – mich wundert noch heute, dass wir ihm nie die Zähle ausgerissen haben. Ja – so waren die Sonntage im Advent. Aber glaubt ja nicht, dass wir unzufrieden waren – gewiss nicht, es war die selbstverständlichste Sache der Welt.

Die Werktage waren anders eingeteilt: 6 Uhr Rorate, 8 – 11 Uhr Schule, Mittagessen, 12 – 15 Uhr Schule. Nach dem Unterricht mussten wir dem Vater im Stall helfen und abends nach dem täglichen Rosenkranz wurde gebastelt. Bei der Krippe fehlte allerlei – wobei wir uns unter Anleitung vom Vater sogar ans Schnitzen – ein Schafl oder eine Kuh – wagten. Die Mutter und die größeren Schwestern mussten bis 9 Uhr spinnen, die Stube war also eine große Werkstätte. Aber: Es war warm und gemütlich.

Und dann kam der Heilige Abend. Gleich in der Früh wurden der große Krippenberg aufgestellt sowie die normalen Bilder von der Wand genommen und durch andere ersetzt, die zur Weihnachtszeit passten. Im Herrgottswinkel wurde ein Hausaltar mit 20 Kerzen und selbst gebastelten Papierblumen aufgestellt, wobei Hans und ich am Abend abwechselnd die Kerzen anzünden durften. In der Mitte des Altars war das Jesuskind – so lieblich und schön, dass man sich kaum sattsehen konnte.

MEIN GOTT,
WAR DIESER

Abendrosenkranz

FEIERLICH MIT DEN
VIELEN KERZEN.

 

Christbaum gab es bei uns zu Hause keinen (obwohl wir einen Wald hatten), dafür wurden wir vom Nikolaus reichlich beschenkt. Einmal kam er sogar sehend (Anm.: persönlich) und selbstverständlich in Begleitung vom Klaubauf (Anm.: Krampuss), um uns schlimme Buben zu züchtigen oder gar im großen Korb fortzuschleppen. Nach einem langen Kriegsrat haben sich Hans und ich entschlossen, uns mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zu wehren. Wir beschafften uns recht zähe Haselnussknüppel und beschlossen, uns hinter dem Stubenofen zu verschanzen und uns aufs äußerste zu wehren. Und richtig, nach der Belehrung des hl. Nikolaus, der uns alle Sünden vom vergangenen Jahr vorhielt, wollte – ausgerüstet mit Rute und großem Korb – genau wie auf Bildern mit dem Teufel, der Klaubauf mit langer, roter Zunge auf uns Lauser losgehen.

Aber flugs flüchteten wir hinter denOfen und der Kampf ging los. Wir wehrten uns, als ob es um unser Leben gehe und Hans drosch mit dem Knüppel auf den Kopf des Teufels. Kurzum: wir blieben Sieger und der Klaubauf musste geschlagen abziehen. Am anderen Tag war der Kopf unseres großen Bruders Toni voller Pinkel (Anm.: Beulen) – der Spuk war aufgeflogen und wir waren hinter das Geheimnis des Nikolaus und Klaubaufs gekommen….!“

@ Peter Hörhager